Wut, Protest und Tunnelblick
Sorgen, Ungewissheit und Angst sind Nährboden für Wut und Aggression – schon immer
Die Digitalisierung rast voran, Klimawandel und Energiewende werden spürbar, eine Zeitenwende ist ausgerufen und die politische Weltordnung wackelt. Wer hat all das noch im Griff, wer behält die Übersicht und wo bleibe ich in dieser Masse an Veränderungen? Diese Frage stellen sich viele Menschen in Deutschland – und das führt zu Sorgen, Ungewissheit und Angst.
Für viele Führungskräfte gehört es inzwischen zum Alltag, mit den Folgen dieses vielschichtigen Wandels umzugehen. Besonders dann, wenn diese Entwicklungen zu konkreten Veränderungen im eigenen Unternehmen führen. Und das ist heute eigentlich überall der Fall.
Neue Technologien, die das Bekannte und Gewohnte ablösen, die Veränderung von uns verlangen oder uns sogar ersetzen können? Auch wenn das ein vielzitiertes Problem unserer Zeit ist – neu ist es wahrlich nicht. Ich habe in meinem „historischen Fundus“ gekramt und gleich zwei anschauliche Beispiele aus der Geschichte gefunden:
Anfang des 19. Jahrhunderts hat die Industrialisierung die Textilherstellung revolutioniert. Die „Spinning Jenny“ ersetzte acht Frauen, moderne mechanische Webstühle und Strickmaschinen arbeiteten schneller, effizienter und vor allem, ohne zu ermüden. Textilarbeiterinnen und -arbeiter bangten um ihre Arbeitsplätze und fürchteten sich vor sinkenden Löhnen – zu Recht! Als Reaktion darauf gingen die Ludditen – benannt nach ihrem Anführer Ned Ludd – auf die Barrikaden und zerstörten die Maschinen, die ihre Lebensgrundlage bedrohten. Besser bekannt sind die Ludditen übrigens als Maschinenstürmer. Die Angst trieb sie an – Angst ist ein großer Motivator.
Ein weiteres, sehr anschauliches Beispiel ist die Eisenbahn. Ihr mörderisches Tempo habe irreversible Schädigungen der Gehirnwindungen (Delirium furiosum) zur Folge – warnten Experten Anfang des 19. Jahrhunderts. In England, dem Mutterland der Eisenbahnen, holte das Unterhaus sogar ein Gutachten ein. Es kam ebenfalls zu dem Schluss, dass eine Reisegeschwindigkeit von über 30 km/h zwangsläufig eine große Gefahr darstelle.
Maschinen oder Technologien, die wir nicht verstehen und nicht richtig einschätzen können, von denen wir nicht wissen, ob sie eine Verbesserung oder Gefahr darstellen – sie verunsichern und lösen Ängste aus. Das ist so, seit es Maschinen gibt – nur gehen die Menschen sehr unterschiedlich damit um. Die einen schauen sich das Neue, die Maschine (egal, ob Webstuhl, Eisenbahn oder KI) genauer an, beobachten, lernen, machen sich ein eigenes Bild und nutzen am Ende im besten Fall die Vorzüge. Und die anderen? Sie sind erst mal dagegen, ohne sich mit dem Neuen auseinander zu setzen. Warum?
Die Sorgen vor Veränderungen, vor dem Verlust von Gewohnheiten und Wohlstand, die Überschwemmung mit Informationen und Erkenntnissen sind für viele Menschen zu groß, als dass eine objektive Annäherung möglich wäre. Es fehlt die nötige Ambiguitätstoleranz – also die Fähigkeit, mehrdeutige und widersprüchliche Situationen auszuhalten und konstruktiv mit Unsicherheit und Ungewissheit umzugehen.
In Unternehmen ist genau das die Situation, in der es gilt, als Führungskraft aufmerksam zu sein, denn die Ängste sind da – ob zurecht oder nicht spielt keine Rolle (schließlich können wir die Auswirkungen des Neuen erst in der Zukunft wirklich beurteilen). Es ist Aufgabe der Führungskräfte, erste Antworten oder zumindest Erklärungen zu liefern, die sich diesen Ängsten entgegenstellen und die Menschen mitzunehmen.
Nicht zuletzt an dieser Stelle haben die Führungskräfte eine schwierige Aufgabe. Trotz vieler Ungewissheiten sollen sie gemeinsam mit ihren Teams durch den sich deutlich abzeichnenden Wandel gehen. Für eine Vielzahl der Unternehmen (auch für viele unserer Kunden) werden die entstehenden Veränderungen disruptiv sein. Dann gilt es ganz besonders, das Team aktiv mitzunehmen. Dialog und verlässliches Handeln sind zentrale Voraussetzungen, um dafür zu sorgen, dass sich die Menschen nicht pauschal gegen das Neue stellen und die Maschinen stürmen. sondern sich auf den Wandel einlassen – trotz der vielen offenen Fragen.
Angst und Ungewissheit sind echte Energiefresser und Motivationskiller. Schlechte Kommunikation, mangelnde Orientierung und fehlendes Einfühlungsvermögen beeinflussen Wirtschaftsleistung und Innovationskraft – und zwar nachhaltig. Das spüren nicht nur viele Unternehmen. Gefühlt legt sich gerade eine Art „Schlechte-Laune-Schleier“ über unser Land.
Da wird gerade ein echtes Problem sichtbar, das „wir Deutschen“ haben: Wir sind auf Planbarkeit und Perfektionismus konditioniert, Fehler stehen für Unfähigkeit und Versagen. Keine guten Voraussetzungen für eine neue Zeit, in der viele etablierte Lösungen und Verhaltensmuster nicht mehr funktionieren. Wir werden also mehr ausprobieren, mehr Fehler machen, mehr Ideen verwerfen, etablierte Positionen hinterfragen und immer wieder neue Lösungsansätze suchen müssen. So lange, bis zumindest die Mehrheit überzeugt ist, in diesem dauerhaften Wandel den richtigen Weg gefunden haben.
Eine Herausforderung für die Führungskräfte in Unternehmen: Denn genau dieses Vorgehen müssen sie immer wieder erklären, neue Erkenntnisse, aktuelle Entscheidungen und unerwartete Entwicklungen einordnen. Kommunikation wird dabei zu einem Schlüsselfaktor und zur täglichen Anforderung – für Entscheider in Unternehmen ebenso wie für die politisch Verantwortlichen. In Politik und Wirtschaft wird es in Zukunft immer mehr auf die tägliche, kluge und verlässliche Kommunikation ankommen, denn nur so gelingt der Wandel und die Anpassung an die neue Zeit.